Im Sommer 2022 bin ich Frau Margarete Baltls Schüler einer Schreibwerkstatt. Der Rahmen ist mit dem Wort Wandel abgesteckt. Erholsam umgeben von Flötenspiel und Klavierklängen schreiben wir.

Ein Brief III

Der nächste Tage brachte ihm erstaunlicherweise wenig Abwechslung. Eine solche Fadesse provozierte ihn und er begann summend seine Arbeit zu begleiten. Den Rhythmus zu seinem Lied fand er in der Bewegung seiner Hände, seiner Füße. Mit einem Mal purzelten Silben unbekannter Herkunft über seine Lippen. Er war sehr erheitert und die Arbeit macht Freude.

Sein Singesang war ansteckend und innert Monatsfrist hatten die verschiedenen Baumaterialien ihre Melodien erhalten. Man hhörte schon von Weitem, ob nun Sand, Holz, Steine, Eisen, Wasser herbeigebracht wurden. Die Laune der Männer stieg merklich und die Verantwortlichen in ihren Befehlsketten waren zufrieden.

Er begann für die Gruppen weitere Lieder zu gestalten. Anlässe dafür fanden sich: Todesfälle, gutes Wetter, glückliche Umstände, ein Insektenstich, ausreichend Essen. Das Repertoire an Musik wuchs. Mehr und mehr trugen ihm Männer Geschichten zu, je nach Leben, die er in Musik verwandelte.

Ein Jahr war er nun schon hier und glückliche Umstände hatten ihm ermöglicht, zum Segen zu werden. Alle hatten ihren Teil zu tun, die Arbeit gelang.

Der Brief hatte auch davon gesprochen.

Der Tag, an dem die Baustelle aufgelassen wurde, kam nicht unerwartet, dennoch überraschend. Narujow hatte es kaum bemerkt, der letzte Zahltag machte es ihm dennoch klar. Die Nacht mit all ihren Verabschiedungen war lang geworden. Am nächsten Morgen Händedrücken, kurze Worte, Winken. Er bleibe hier in der Mongolei, war seine Antwort auf ein zugeworfenes Wohin gewesen.

Ein sehr verdutztes Augenpaar sah ihn an. „Du bist nicht in der Mongolei“, hörte er noch, dann versank er im intellektuellen Nichts.

Nachdem er im Schatten einer Hecke erwacht war, begriff er seinen Standpunkt. Die Mongolei war ja ein Land der Steppe. Woher die Bäume, Steine? Wo war er? Er war vor einem Jahr viel zu weit gereist. Sein Gepäck, sein Talent und Wissen, seine Erfahrungen und Lieder, nahm er auf und reiste nach Hause. Er fand einen wunderschönen Platz.

Hier begann er zu musizieren. Er schuf einen Raum für Konzerte, für Proben, für Aufnahmen. Er lud Menschen, wenige, dann mehr und mehr, ein, die Leute kamen gerne, jeden Tag nun gab es Musik.

Sein Urahn hatte das zwar nicht erahnen können, dennoch hatte er in seinem Brief die Kraft der Musik in Raum und Zeit gekannt.

An eine Obrigkeit

Sehr geehrter Herr Zwang!
Sehr geehrte Frau Haft!

Seit geraumer Zeit nun schon führen Sie beide mich mit je unterschiedlicher Absicht durch das Leben, stets bemüht, daß mir kein Ast auf den Kopf fällt. Die Pflichterfüllung Ihres täglichen Soll hat mich sehr viel gelehrt und ohne Ihrer Obsorge käme die äußere Form meiner Arbeiten einer Fastenzeit gleich.

Ich danke Ihnen für Ihre Mühewaltung ohne versteckten Vorwurf an Sie, die Sie beide in Ihrer Zeit — so will ich es stehen lassen — Gutes gewirkt haben.

Ich antworte ab sofort auf die Umstände der Welt mit meinem Talent und Wissen, mit meiner Erfahrung und verabschiede mich von Ihnen zeichnend mit einem Gruß aus dem Leben

XAIPE, Stefan Vetter

Gewohnheit

Wenn wegen der Pflichten
das Sichten
der notwendigen Schritte
trotz aller Bitte
nicht mag gelingen,
dann tapp‘ ich in Schlingen:
Vergeude die Zeit.

Dann werden wahllos gelesen,
ganz ohne Besen,
Postings und Schrott —
Ein echtes Komplott! —
anstatt zu kehren,
den Mist abzuwehren:
Verschwende die Zeit.

Dann gibt’s ein Erwachen
und schöne Sachen
warten geduldig —
Bin ich nun schuldig
fernab meiner Seele,
die ich so quäle? —
sind zum Vollenden bereit.

Ein Brief II

Er blieb bei sich und seinem Mut und ging wieder neben dem Träger her. Eine Weile nur, dann kam die Baustelle in Sicht. Der Platz für das Sammeln der vielfältigen Baumaterialien war wohlgeordnet. Der Verantwortliche wies die Ankommenden auf ihre Plätze. Er half nun beim Abnehmen der Last und dem Schlichten der Ziegel.

Der Träger führte ihn zum Verantwortlichen. Dort erhielt er ein Traggestell. Zu zweit gingen sie zurück.

Stein aufladen. Tragen. Steine abladen. Intellektuell einfach zu erfassen, körperlich hingegen schwer zu bewerkstelligen. Er war dem Brauch der Arbeit fremd, auch das verstand er sehr schnell. Die Last, wenngleich konstant im Gewicht, wurde mit jeder Tour schwerer.

So stand es schon in dem Brief, den man auf der Brust seines toten Großvaters fand. 

Der Abend kam, die Männer stellten sich an, ohne Kommando, vor der Bauhütte. Jeder mit Namen Aufgerufene kam vor und erhielt den Tageslohn. Sein Verantwortlicher ließ einen Namen für ihn auf die Listen setzen. Ab heute hieß er Narujow, Eidechse.

Er folgte seinem Steinträger und den anderen Männern zu den Essensbaracken. Männer kochten in großen Töpfen ein Allerlei. Ruhig war es und jeder aß seinen Hunger satt. In der Stille des Essens fiel ihm die Wortlosigkeit dieser Menschen auf. Kaum Worte, von Gesang keine Idee.

Wieder bewahrheitete sich eine Zeile des Briefes: Stille führt zum Erkennen.

Der Traum der ersten Nacht auf der Baustelle ließ ihn auf dem Klavier improvisieren. Er sah sich in die Frühlingssonne tönen bis die Hände in einer starken Melodie verweilten, die in der Wiederholung ihre Kraft entfaltete. Hinter dem Rücken erklang, zaghaft zuerst, Gesang von Männern.

Geheimnis

In der Stille lebensunverwandter Seite
bring‘ zutag ich Rosenfrüchte gern.
Mag man wissen wie der Keim entstand?

Geschichte mir erklärt den Weg zur Reife.
Erst im Rückblick mag ich das erkennen,
was ich suchend jahrelang nicht fand.

Hier und jetzt, ich heute bin
bar der kalten Hände 
fröhlich eingebettet.
Schreibe Zeilen
meinen Liedern, kommenden, entgegen.

Nie hab ich geseh’n, woher sie kommen;
klangen unvermutet zart in meinen Tag,
zugemutet mir,
dem Menschen,
der sie hören mag.

Ein Brief I

Der Tag, an dem er starb, war er zu ersten Mal seinem Herzen vertraut gewesen. Der vergilbte Brief lag auf seiner Brust.

Viele Jahre hatte er entlang der Wand gelebt. Von der Ordnung des Lebens angezogen kannte er Reife und Wunder nur vom Hörensagen. Ein erfrischender Irrsinn seiner Seele hatte ihn an diesem Tag erfreut. Mit Handgepäck reiste er in die Mongolei. Weder Sprache noch Land, weder Tier noch Mensch waren ihm vertraut.

Er wäre fast verhungert, denn er war gewohnt, daß alles vorbereitet war. Verwundert hatte er feststellen müssen, daß er in der Mongolei nicht einmal ignoriert wurde. Selbst Wien war ihm in seinen Studienjahren freundlicher begegnet. Sein Kadaver wäre nicht einmal verscharrt worden. Das durfte natürlich ganz und gar nicht sein, wenngleich — wer von den Zurückgelassenen würde je davon erfahren?

Wie weiter? Er beobachtete einen Mann, der sich mit Ziegelsteinen abmühte. Er stapelte sie auf, offenbar, um sie dann fortzutragen. Er begann, ihm die Steine zuzureichen, wurde so der Handlanger eines Steineträgers. Ungewiss ob eines Lohnes half er ihm, das Traggestell aufzunehmen. Er ging neben ihm her. In einer kurzen Pause teilte er das Wasser mit ihm. Der Ausländer wollte nun die Last aufnehmen, was ihm mit einer strikten Handbewegung verwehrt wurde.

 

Anmerkungen
(1) Die Geschichte „Ein Brief“ hat ihren Ursprung in der Übung, aus drei ausgewählten Zitaten eine Geschichte zu schreiben. Ich habe diese drei Sätze ausgewählt: „Ein Brief errötet nicht, er vergilbt.“ „Die kleinste Bewegung ist für die ganze Natur von Bedeutung. Das ganze Meer verändert sich, wenn nur 1 Stein hineingeworfen wird.“ „Der erste Schreitt um irgendwohin zu kommen, ist zu entscheiden, nicht dort zu bleiben, wo man ist.“
(2) Zur Gedicht „Geheimnis“ eine weitere Erläuterung. Ich komponiere auf zwei Weisen: 
Auf dem einem Weg folge ich Text und Musik in meinem Inneren so lange, bis das Lied oder die Improvisation fertig ist. Dann feile ich daran. Voilà! So habe ich z. B. A Hümmü voi und Mein letztes Rendez-vous und Im Hümmü wiad a Woid sein zu Papier gebracht; einer inneren Regung folgend habe die z. B. die fantasia in Es-Dur aufgenommen.
Auf einem anderen Weg gefällt mir ein Thema, eine Geschichte, ein Textbaustein und ich beginne zu basteln. An den so entstandenen Teilen arbeite ich wiederholt. Auf einmal fügen sich alle zusammen, das Lied ist fertig. Ek batheon und Darf ich Sie vertonen z. B. sind auf diese Weise entstanden.
Das wirklich Spannende am Komponieren ist das weiße Blatt Papier.
(3) Gewohnheit: Schreiben über eine Gewohnheit, die ich lieber nicht hätte.
(4) Das Titelbild zeigt den in Entstehung befindlichen Schriftzug des Wortes „schrei(ben)“ in der Kurzschrift Stiefografie.

Fotos, Zeichnungen, Composition und Aufnahme
(c) 2021-2022 by Stefan Vetter

Über den Autor
Stefan Vetter komponiert und musiziert seit seinen Jugendjahren. Erst mit dem Jahr 2021 hat er begonnen, seine Lieder systematisch zu sortieren und so der Öffentlichkeit vorzustellen.

 

 

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